Soziologie aus der Küche

Angesichts der sich zuspitzenden Diskussion um Migrationsbewegungen und Klimawandel bewegt mich momentan die Frage, warum sich so viele und eigentlich nette Nachbarn hinter rechten Parolen versammeln und den Verkündern ebenso schlichter wie falscher Thesen auf Demos hinterherlaufen.

Warum kommen also Plakate wie „Wir haben Angst um unsere Frauen und Kinder“ in Upahl so gut an und warum steht da nicht „Wir machen uns Sorgen um die Rechte der Frauen und Kinder auf der ganzen Welt“? Oder warum trifft der Bild-Zeitungs-Slogan „Die Grünen nehmen uns die Autos weg“ auf mehr Verständnis als „Beim Verfehlen der Klimaziele steht in 50 Jahren ganz Bangladesch unter Wasser“?

Ich glaube, die Nationalpopulisten und die Klimavereinfacher treffen und massieren mit ihren Sprüchen einen ganz zentralen Punkt in unserer Wahrnehmung der Umwelt. Es liegt ganz einfach daran, dass Upahl hier ist und wir ein Auto haben. Wäre Upahl in Uganda und hätten wir keinen Führerschein, würden wir uns ernsthafter mit der zweiten Variante beschäftigen.

In unserer menschlichen Grundeinstellung nimmt das Interesse an Dingen und die Bereitschaft, aktiv auf sie einzuwirken, exponentiell mit der Entfernung des Problems in Raum und Zeit ab.

Diese Fokussierung auf das Hier und Jetzt war in einer Welt sicher sinnvoll, in der der Wirkungskreis des Menschen nicht über die nächste Hügelkette hinwegreichte und es essentiell wichtig war, ob der Nachbar in der nächsten Eigentumshöhle nicht doch ein Säbelzahntiger war. Als nachhaltiges Handeln war da nur das Einlagern von Wurzelknollen für den Winter ausreichend. Für unser Problemverständnis war das zu der Zeit völlig ausreichend.

Heute aber, wo fast 10 Milliarden Menschen über ihr individuelles oder kollektives Verhalten globale und langfristige Prozessketten bei Klima, Rohstoffgewinnung, industrieller Fertigung und globaler Bewegung von Waren und Menschen auslösen und regulieren, passen diese intuitiven Verhaltensweisen nicht mehr zu den relevanten Skalen. Kleinskalige emotionsgetriebene Ansätze und rationale Analysen systemweiter Vorgänge liefern uns jetzt gegensätzliche Lösungen.

Ich glaube, die meisten Menschen kennen das ziemlich genau aus dem täglichen Leben und können die unterschiedlichen Qualitäten der beiden Ansätze auch genau bewerten, denn sonst würde keiner Bausparverträge abschließen, in die Rente einzahlen oder seine Kinder auf Schulen schicken.

Aber warum fallen wir dann immer wieder auf die „schnellen und einfachen“ Lösungen rein?
Zum einen ist es bequem, denn bei kurzen und lauten Parolen muss man nicht über komplexe Zusammenhänge nachdenken, was vielen Menschen als schwierig und mühsam erscheint.
Dann spielt die Umgebung eine Rolle. Die positive Bestätigung des nahen sozialen Umfeldes (peer-group) wiegt mehr als die negative Haltung entfernter Kreise wie Politik oder Wissenschaft. In einer sozialen Blase (wie in kleinen Gemeinden im ländlichen Raum) lässt sich beides (dummes Zeug reden und alle nicken) mühelos und ohne Widerspruch vereinen, die paar alternativ Denkenden werden in ihre eigene Blase abgeschoben.
Das spiegelt sich dann auch im unterschiedlichen Wahlverhalten in Stadt und Land wider (z.B. Wahlergebnisse Grün vs. KAFD in Berlin/München vs. Meck-Pom/Sachsen-Anhalt).

Ganz grundlegend steht dahinter aber das Prinzip der Belohnung.
Protestiere ich gegen Geflüchtete oder Klimaschutzgesetze, muss ich mir keine Gedanken um andere kulturelle Normen machen und meine nicht hinterfragen und kann laut und schnell Auto fahren. Ich muss mich nicht ändern. Dazu werde ich noch mit der Zustimmung meines Umfeldes belohnt und das alles hier und heute.

Bei nachhaltig und langfristig angelegtem Denken und Handeln kann ich mir die Auszeichnung der Frau des Jahres durch die Ministerpräsidentin im Fernsehen angucken und mich über die Kinder freuen, die in 50 Jahren in Bangladesch nicht ertrinken. Das ist weit weg und ich muss mich unter Einsatz der Ratio und unter Verzicht auf sofortiges Belohnungsempfinden davon überzeugen, dass dieses der richtige Weg ist und auf das spontane Vergnügen einer Autofahrt zum Schnitzelparadies verzichten. Das macht nur bedingt Spaß.

Also produziert unser Standardbewusstsein (wohl eher das Unterbewusstsein) Belohnungsreize, die den heutigen globalen Problemskalen nicht mehr angepasst sind. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, wie man gegen diesen archaischen Teil unseres Bewusstseins das Gefühl der Belohnung für global ökologisch und sozial nachhaltiges Verhalten schafft und vergrößert. Dass so etwas überhaupt geht, sieht man daran, dass wir alle (hoffe ich jedenfalls) uns über Nachrichten freuen, dass sich die Riffe in Australien erholen oder die Abholzung des Amazonas sich nach Wahlen in Brasilien verringert. Abgesehen vom zweifelhaften Wahrheitsgehalt machen uns diese Neuigkeiten doch irgendwie froh und zufrieden.

Wie kriegt man dann die netten Nachbarn von vorhin ebenfalls dazu, sich nicht (nur) über den neuen Thermomix sondern auch über die gelungene Integration eines Syrers beim Bäcker nebenan oder das Tempo 100 auf Autobahnen zu freuen?

Leider nicht spontan und schon gar nicht mit Gewalt, sondern durch:

1. Sensibilisierung – Das läuft schon ganz gut, NGOs, Parteien und inzwischen selbst staatliche Stellen (BFN, Umweltministerien) machen Reklame für gesteigertes Umweltbewusstsein. Auch die Medien geben sich mit Umweltreports und Bildungsseiten einigermaßen Mühe. Aber die konkreten Folgen für den Einzelnen, die sich zwingend aus den Berichten ergeben, stoßen noch auf Widerstand und Unverständnis (Veggie-Day nicht mit mir; freie Bürger, freie Fahrt und ähnlicher Blödsinn)

2. Bildung – Hier muss sich durch schulische Bildung, aber ganz verstärkt auch die im Elternhaus, Verständnis für globaler Kreisläufe und Zusammenhänge, also Prozesse auf großen Skalen, entwickeln. Als kleines Rädchen im großen Getriebe sind auch wir direkt mit Korallen und Regenwald verbunden und stehen in der Verantwortung dafür. Dabei ist jeder Einzelne wichtig für das Gesamtsystem und kann darauf einwirken. „Da kann man nichts machen“ ist eine Lüge. Ich glaube, für die Verbreitung dieser Zusammenhänge ist besonders im Elternhaus noch viel Luft nach oben.

3. Hohe Verzinsung des heutigen Handelns – Die Argumentation in dieser Richtung halte ich für sehr überzeugend, weil sie schlicht unserer natürlichen Raffgier entgegenkommt und spontan das Belohnungszentrum anspricht. Was ich heute durch ökologisch korrektes Handeln verliere, kriege ich später vermehrt in Form einer sauberen Umwelt und verbesserter Lebensgrundlage zurück. Im anderen Fall zahle ich als ganz reale Person später durch Extremwetterschäden, Gesundheitsschäden und sozialen Verschiebungen ganz viel reales Geld (cash oder Steuern), um alles wieder hinzubiegen. Und auch der uns eigene Erbgedanke passt gut hier hin, wenn man ihn erweitert: Es ist wichtiger den Kindern eine gesunde Umwelt zu vererben als einen Haufen Kohle, denn für saubere Luft muss man keine Erbschaftssteuer bezahlen. Ich halte es für wichtig, uns und unsere Mitmenschen nicht nur durch edle, altruistische Perspektiven zu motivieren, sondern auch über das Gefühl, das uns ganz nahe und für jeden direkt verständlich ist: die Eigensucht. Darum denke ich man sollte diesen Aspekt als Antrieb für nachhaltiges Handeln in Gesprächen ganz gezielt ansprechen. Als Kritik könnte man diese Versprechen „Wenn Du jetzt (durch ökologisches Wohlverhalten) zahlst, geht es Dir und Deinen Kindern später besser“ mit dem klassischen Ablasshandel des Mittelalters „Zahle jetzt und komme dafür später in den Himmel“ gleichsetzen. Der Unterschied zum Ablasshandel ist aber, dass sich außer der Allgemeinheit und dem Ökosystem keiner daran bereichert. Grundsätzlich ähnlich ist allerdings, dass diese Art Erpressung sofort verstanden wird, denn genau dafür haben wir alle einen gut funktionierenden Empfangsmechanismus: Die Angst vor persönlichem Schaden. Also, wenn sich etwas in unserer Einstellung ändert, dann nur langsam und bei der Geschwindigkeit, mit der die Probleme wachsen, wird das ein enges Rennen. Aber: „Da kann man nichts machen“ ist keine Option, also machen wir was.